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Warrens verlorene Liebe

Die Wächter von Sisong, Bd. 5

  • Warrens verlorene Liebe

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  • Schließlich meinte Warren, unten im Tal etwas wahrzunehmen. Eine Bewegung, nur so leicht, dass er zunächst glaubte, seine Fantasie würde ihm einen Streich spielen. Daher widerstand er dem Impuls, sich sofort an die betreffende Stelle zu versetzen und tastete stattdessen die Umgebung mit seinen Sinnen ab. Gerade wollte er aufgeben, weil er nichts Besonderes ausmachen konnte. Vielleicht hatte er nur den Aufbruch der letzten Person im Tal erfasst, oder ein Tier war über die Felsen gehuscht, oder … Aber im nächsten Moment schnellte Warrens Aufmerksamkeit wieder in die Höhe. Da war doch etwas! Ein Raunen, ein Seufzer oder etwas Ähnliches, kaum wahrnehmbar, dennoch anders als ›nichts‹.
    Und dann wurde er mit einem Mal von einer Woge aus Emotionen erfasst, die ihn erreichte, über ihm zusammenschlug, und deren Heftigkeit ihn beinahe in die Knie zwang. Sie kam von außen, fand jedoch sofort einen direkten Zugang zu seinem Inneren, fegte wie ein Wirbelwind hindurch und brachte es in helle Aufruhr. Warren stützte sich mit den Händen auf seinen Oberschenkeln ab, keuchte, als hätte er größere körperliche Anstrengungen hinter sich und bemühte sich, seine Empfindungen zu ordnen oder zumindest zu bestimmen. Beides misslang.
    ›Genna?‹, sandte er die einzige logische Erklärung, die ihm einfiel, als Frage in die Dunkelheit. Dieses Chaos in seinem Inneren konnte doch nur eine verspätete Reaktion auf das Wiedersehen mit ihr sein! Vermutlich war sie noch im Tal geblieben oder dorthin zurückgekehrt und beobachtete ihn. ›Bist du das?‹, hakte er nach. Er bekam jedoch keine Antwort.
    Ohne sich bewusst dafür entschieden zu haben, fand Warren sich im nächsten Moment im Tal zwischen den Felsen wieder, von wo die Gefühle ausgesendet worden sein mussten. Doch dort konnte er niemanden ausmachen. Gleichzeitig ließen seine Empfindungen beinahe so schnell wieder nach, wie sie begonnen hatten, und ließen ihn verwirrt zurück.
    Er lauschte aufmerksam in sich hinein, konnte aber keinen Unterschied zu seinem Zustand vor der Gefühlswoge feststellen. Sie war anscheinend durch ihn hindurch gerauscht, ohne Spuren zu hinterlassen. War sein Erlebnis am Ende nur seiner Fantasie entsprungen? Zwar ausgelöst durch das Wiedersehen und seine Gedanken an Genna, aber ohne deren Zutun entstanden? Das fand er unwahrscheinlich, denn eigentlich war seine Denkweise eher nüchtern und pragmatisch. Normalerweise neigte er nicht zu Hirngespinsten. Kopfschüttelnd legte er seine Hand an einen der Felsen – und zuckte im selben Augenblick zurück.
    Nein, das war keine Einbildung! Der Stein war warm, obwohl die Nachtluft ihn längst hätte abkühlen müssen. Hier hatte bis eben jemand gestanden und am Felsen gelehnt.
    Warren ging in diesem Moment sicher davon aus, dass dieser ›jemand‹ niemand anderes als Genna gewesen sein konnte. Denn es war für ihn nicht vorstellbar, dass sonst eine Person einen solchen Aufruhr in seinem Inneren hätte verursachen können, auch wenn dieser sich jetzt wieder gelegt hatte. Auf die Frage, wie sie diese Wirkung hervorgerufen und vor allem, warum sie das getan hatte, wusste er allerdings keine Antwort. Aber um das herauszufinden, brauchte er sie ja nur zu fragen, wenn er sie das nächste Mal traf.
    Von seinem Standort aus schaute Warren nach oben, zu der Stelle, von der aus Cat die Ernennungszeremonie durchgeführt hatte. In der Dunkelheit erahnte er die Felsformation zwar mehr, als er sie tatsächlich sehen konnte, dennoch fesselte irgendetwas dort seinen Blick. Warren stand regungslos und starrte gebannt in die Schwärze der Nacht, obwohl er noch nicht einmal hätte sagen können, wonach er Ausschau hielt. Eine Ahnung stieg in ihm auf, dass sein Erlebnis noch nicht zu Ende war, er sich vielmehr im Auge des Sturms befand, und seine Verschnaufpause gleich enden würde.
    Und richtig! Im nächsten Augenblick überrollte ihn eine erneute Welle von Gefühlen, noch heftiger als die erste, so stark, dass sie ihm Tränen in die Augen trieb und ihn laut aufstöhnen ließ. Er wäre davon zu Boden gerissen worden, wenn er sich nicht gerade noch an dem Felsen abgestützt hätte. Während Warren sich darum bemühte, sein Gleichgewicht zu halten, senkte er den Kopf, hielt sich mit beiden Händen fest und schaffte es so, stehen zu bleiben. Der Sturm in seinem Inneren dauerte wieder nur wenige Sekunden, dann ebbte die Woge abermals genauso rasch ab, wie sie auf ihn eingestürzt war. Dieses Mal konnte er allerdings ihren Nachhall weiterhin spüren.
    Er atmete ein paar Mal tief durch, schüttelte sich, hob den Blick wieder – und erstarrte. Vor ihm, nur eine Armlänge entfernt und ihm zugewandt, stand ein Einhorn. Fell, Mähne und Schweif waren dunkel und hoben sich kaum von der Umgebung ab, aber dadurch, dass es ihm so nah war, konnte Warren nicht nur das typische, spitze und imposante elfenbeinfarbene Horn auf der Stirn des großen, kräftigen Tieres sehen, sondern auch die funkelnden schwarzen Augen, die ihn aufmerksam musterten. Fast schien es, als würde es ihm eine stumme Frage stellen und auf eine Antwort warten. Warren war etwas mulmig zumute, als er das Einhorn betrachtete, doch gleichzeitig war er fasziniert von dessen Schönheit und Anmut. Es blieb einige Sekunden lang an einer Stelle stehen, dann schnaubte es leise, wandte sich ab und verschwand zwischen den Felsen.
    Warren verharrte eine Weile regungslos und wartete gespannt, ob es zurückkehren würde. Schließlich, als er sich sicher war, dass es nicht wiederkam, ließ er die Schultern sinken und stieß die Luft aus, die er instinktiv angehalten hatte. Er war erleichtert, aber auch ein wenig enttäuscht, weil er das Einhorn gern noch länger und ausführlicher betrachtet hätte. Und vielleicht wäre es ihm doch noch gelungen, mit dem Wächtertier zu kommunizieren und eine Erklärung für die Gefühlswogen zu bekommen, die ihn überrollt hatten?
    Ein Einhorn! Noch nie zuvor hatte Warren solch ein Tier gesehen, nicht einmal aus der Ferne, und schon gar nicht hatte eines die Begegnung mit ihm gesucht. Warum auch? Schließlich war sein Wächtertier der Phönix und nicht das Einhorn.
    Und dann die übermächtigen Emotionen, die dieser rätselhaften Begegnung vorausgegangen waren! Weit heftiger als alles, was er bis dahin erfahren hatte, das Wiedersehen mit Genna eingeschlossen.
    In den Momenten, als die Wogen ihn erfasst hatten, war für ihn nicht klar erkennbar gewesen, was da auf ihn einstürzte: Die Wucht hatte logisches Denken unmöglich gemacht. Und selbst jetzt, nachdem der Sturm aus Gefühlen abgeebbt war, konnte er nicht nachvollziehen, woraus dieser im Einzelnen bestanden hatte. Allerdings hatte das Erlebnis Spuren hinterlassen, schwang in ihm nach und ließ ihn nicht wieder zur Ruhe kommen. Der Nachhall schien die Oberfläche seiner Emotionen zu bewegen, so wie ein leichter Wind kleine Wellen auf einem See verursachte.
    Je länger Warren in sich hineinhorchte, desto mehr bekam er allerdings den Eindruck, dass in der Tiefe noch weit mehr geschlummert hatte und von der Begegnung mit dem Einhorn geweckt worden war. Er spürte, dass etwas in ihm an die Oberfläche drängte, sich Gehör verschaffen wollte und sich nicht mehr beiseite schieben ließ. Ob das die Verbundenheit zu den Mächten von Sisong war, die er nun als Wächter spüren konnte? Aber warum hatte er dann nicht den Phönix seines Heimatkontinents Piranimbor gesehen?
    Noch konnte er diese Fragen nicht beantworten, aber er wusste mit Sicherheit, dass sich etwas in Bewegung gesetzt hatte, das nicht mehr rückgängig zu machen war. Und dieses ›etwas‹ empfand er als eine Kraft, die zu ihm gehörte, ihn ergänzte, vervollständigte – und die das Einhorn befreit hatte.