Der kleine Unterschied
(Erzählung)
Haben Sie Kinder? Ich habe drei. Die beiden älteren sind Jungen, und so lange sie klein waren, vertrat ich die Ansicht, Unterschiede im Verhalten von Jungen und Mädchen seien anerzogen.
„Wenn man seinen Kindern exakt die gleichen Bedingungen und ein identisches Umfeld bietet, “ so meine Überzeugung, „werden sie sich auch gleich verhalten. Das ist völlig unabhängig davon, welchem Geschlecht sie angehören.“
Doch dann, als meine Söhne zwölf und zehn Jahre alt waren, kam meine Tochter zur Welt und belehrte mich schnell eines Besseren. Obwohl ich sie – so meine ich zumindest – auf dieselbe Weise erzog wie vorher ihre Brüder, verhielt sie sich vom zartesten Babyalter an anders. Typisch weiblich eben.
Das glauben Sie nicht? Ich hätte es auch nicht geglaubt. Aber lassen Sie mich eine der vielsagendsten Begebenheiten schildern, die mich meine Meinung ändern ließ.
Meine kleine Tochter war ein gutes Jahr alt, hatte mit dem Laufen begonnen und brauchte daher dringend ein Paar Schuhe. Ich ließ mir jedoch immer neue Ausreden einfallen, um den Kauf hinauszuzögern. „Barfuß laufen ist viel gesünder“, behauptete ich beispielsweise. „Ohne Schuhe kann sie viel besser laufen lernen“, und: „Sie wächst ja so schnell. Die Schuhe, die ihr jetzt passen, sind ihr doch in kürzester Zeit ohnehin zu klein.“
Aber es half nichts. Mein Kind wollte laufen, nicht nur im Haus, sondern auch auf der Straße, beim Spazierengehen im Park oder im Wald, beim Einkaufen, kurz: eigentlich immer. Und in unserer zivilisierten Welt geht das nun einmal nicht ohne Schuhe. „Wo ist das Problem?“ werden Sie vielleicht fragen. Allerdings nur, wenn Sie noch nie für einen kleinen Jungen Schuhe kaufen mussten.
Ich dagegen kannte das Problem genau, aus leidvollen Erfahrungen mit meinen beiden Söhnen, als die noch Kleinkinder waren. Schon beim Betreten eines Schuh-Geschäfts wurde ihr Unwillen deutlich, allenfalls noch abgemildert durch die dort aufgebauten Spielgeräte. Bei der Anprobe des ersten Paars machten sie ihrem Ärger lautstark Luft und liefen weg, sobald sich eine Gelegenheit dafür bot. Beim zweiten Paar erreichte der Protest Phonzahlen, die unangenehm für die Trommelfelle waren. Und falls ich gar auf die Idee kam, es mit einem dritten Paar versuchen zu wollen, benahmen sie sich dermaßen daneben, dass sogar der routiniertesten Verkäuferin die Geduld ausging, ihr freundliches Lächeln immer gequälter wirkte und schließlich durch eine wütende Miene ersetzt wurde.
Mit einem ähnlichen Verhalten rechnete ich auch bei meiner Tochter, als ich mich eines schönen Tages in mein Schicksal ergab und mit ihr im Schlepptau ein Schuh-Geschäft betrat. Und nun stellen Sie sich meine Überraschung vor, als ihr die Verkäuferin das erste Paar Schuhe anzog und die Kleine fasziniert zuschaute, ohne den allerkleinsten Versuch der Gegenwehr zu unternehmen! Sie sagte keinen Ton, sie sprang auch nicht vom Stuhl auf, um wegzulaufen. Stattdessen saß sie still und sah sehr zufrieden aus. Auch beim zweiten und dritten Paar änderte sich das nicht. Mein kleines Engelchen ließ sich brav die Schuhe an- und wieder ausziehen und machte keinerlei Anstalten, Widerstand zu leisten.
Ich entschied mich schließlich für das fünfte oder sechste Paar und schlenderte dann bei den Damengrößen vorbei. Nicht, dass ich dringend neue Schuhe brauchte, aber ich wollte mal nachschauen, was in meiner Größe da war.
Als ich ein Paar, das mir besonders gut gefiel aus dem Regal nahm und es rasch überstreifte, ließ sich meine Tochter auf dem Boden nieder und versuchte, sich die vor ihr aufgereihten viel zu großen Schuhe anzuziehen. Das war so niedlich, dass ich ihr noch ein paar Minuten zusah. Schließlich beugte ich mich aber zu ihr herunter und forderte sie auf: „Komm, mein Schatz, jetzt gehen wir nach Hause.“
O je!
Dass sie mindestens ebenso laut schreien kann wie ein Junge, hat sie in jenem Moment unter Beweis gestellt. Mitleidige bis vorwurfsvolle Blicke trafen mich, während ich bezahlte, mein brüllendes Kind an der Hand. Viele meinten wahrscheinlich, ich hätte sie geschlagen.
Ich verließ schnellstmöglich und mit gesenktem Kopf das Schuh-Geschäft, während meine Tochter an meinem Arm zerrte und mit aller Kraft versuchte, zum Schuh-Regal zurückzukehren.
Seitdem ist jeder Schuhkauf mit ihr ähnlich verlaufen: Das Anprobieren und Aussuchen verlief stets friedlich und reibungslos. Probleme gab es erst, wenn ich den Laden wieder verlassen wollte.
Heute nenne ich ihr Verhalten „typisch weiblich“. Schuhe findet sie toll. Genau wie ich und die meisten anderen Frauen, die ich kenne.