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Der Besucher

(Eine Fantasy-Kurzgeschichte)

 

Es war eine düstere Novembernacht, und ich war allein Zuhause. Der Hund hatte schon ein paar Mal angeschlagen, als er gegen Mitternacht endlich Ruhe gab. Ich wälzte mich noch eine Weile hin und her, hörte das alte Haus ächzen und knarren und war gerade eingeschlafen, als ich halb im Traum wahrnahm, dass es hell geworden war. Ich öffnete die Augen und sah, dass vom Fenster her taghelles Licht den Raum erfüllte. Der Wecker zeigte kurz vor eins, aber vielleicht war er auch kaputt, denn der Sekundenzeiger bewegte sich nicht.

Ich stand auf und schlich zum Fenster. Etwas Ungewöhnliches ging vor sich, das spürte ich deutlich. Doch was ich durch das Fenster erblickte, erschreckte mich dennoch: Am Himmel stand, völlig unbeweglich, das unregelmäßige Zickzack eines gewaltigen Blitzes. Dabei grollte kein Donner, kein Regen prasselte, und auch kein anderes Geräusch war zu hören. Aber dann schlug plötzlich eine Autotür, und ich fuhr zusammen. Instinktiv versteckte ich mich hinter dem Vorhang und lauschte, bis ich meinte, auf dem Kiesweg leise Schritte zu hören. Vorsichtig lugte ich um den Vorhang herum und sah einen silberfarbener Sportwagen, der zwischen den Gewächshäusern unserer Gärtnerei parkte.

So plötzlich, wie meine Angst gekommen war, war sie wieder verflogen. Stattdessen packte mich der Zorn. Irgendjemand war dabei, in unsere Gärtnerei einzubrechen und ich wollte nicht tatenlos zusehen, wie dieser jemand sein Unwesen trieb. Ohne nachzudenken, rannte ich die Treppen hinunter zum Hintereingang unseres Hauses, nahm den großen Schlüsselbund für die Gewächshäuser vom Haken und lief nach draußen. Im Hof sah ich den Hund, wie er reglos und mit eingekniffenem Schwanz den Himmel anstarrte. Ich würde mich auf dem Rückweg um ihn kümmern. Zunächst musste ich herausfinden, was in der Gärtnerei vor sich ging.
Die Tür des vorderen Gewächshauses, in dem wir Baumsetzlinge und Beerenobst-Sträucher ziehen, stand offen. Ich zögerte und überlegte kurz, ob ich lieber ins Haus zurücklaufen und die Polizei anrufen sollte. Aber bis die ankämen, wäre der Einbrecher längst über alle Berge. Also packte ich den Schlüsselbund noch etwas fester, schlich auf Zehenspitzen in das Gewächshaus, duckte mich hinter die Setzlinge und schaute mich vorsichtig um.

Ich entdeckte einen Mann, schätzungsweise zwei Meter groß und kräftig gebaut. Er trug einen Blouson und eine Hose, die silbrig glänzten. Der Stoff seiner Kleidung spiegelte das Licht des Blitzes wider, der nach wie vor am Himmel stand. Der Mann hatte kurz geschnittene, glatte dunkle Haare. Während ich ihn betrachtete, drehte er sich um und schaute in meine Richtung. Er war der attraktivste Mann, den ich je gesehen hatte, mit hellen, strahlenden Augen. Er sah nicht aus wie ein Einbrecher, sondern wirkte freundlich, aber er blickte unverwandt zu den Setzlingen herüber, hinter denen ich mich verborgen hatte.
„Er kann mich nicht sehen“, beruhigte ich mich selbst in Gedanken.
„Doch, ich sehe dich.“
Hatte er gesprochen? Hatten seine Lippen sich bewegt? Und woher wusste er, was ich dachte? Er machte einen Schritt auf mich zu, und ich hörte: „Du brauchst keine Angst vor mir zu haben. Ich bin nicht gefährlich.“
Zögernd trat ich aus meinem Versteck. „Was tust du hier mitten in der Nacht?“, wollte ich wissen.
„Ich brauche Nutzpflanzen, möglichst viele Sorten“, kam seine überraschende Antwort. „Die Sache duldet keinen Aufschub, daher konnte ich mir die Tageszeit nicht aussuchen.“
Obwohl mich diese Auskunft nicht befriedigte, hakte ich zunächst nicht nach. Ich hatte noch viele weitere Fragen an ihn.
„Woher kommst du?“
„Von einem Planeten, der viele tausend Lichtjahre von hier entfernt, aber eurem sehr ähnlich ist.“
Machte er Witze? Im Kino waren Außerirdische scheußliche, kämpferische Monster ohne Ähnlichkeit mit Menschen, und nicht große, gutaussehende Männer mit verwirrend hellen Augen.
„Wie bist du hierher gekommen?“
„Mit dem Raumgleiter, der draußen steht.“ Er zeigte in die Richtung, in der der Sportwagen stand. Ungläubig schüttelte ich den Kopf. „Und mit dem Blitz hast du sicher auch etwas zu tun?“ Das hatte ich als Scherz gemeint, aber er nickte.
„Der entsteht, wenn der Raumgleiter in eure Atmosphäre eintaucht. Aber er richtet keinen Schaden an.“
„Und warum steht er am Himmel, statt wieder zu verschwinden?“
Der Mann zuckte mit den Schultern. „Ich habe die Zeit angehalten“, erklärte er, als sei das das Alltäglichste auf der Welt. „So wird niemand meinen Besuch bemerken. Außer dir natürlich.“

Meine Nackenhaare sträubten sich, und mein Verstand schien auf einmal nur noch ganz langsam zu arbeiten.
„Du hast die Zeit angehalten? Und das soll ich glauben?“, versuchte ich, mich zu wehren.
„Schau auf die Uhr“, schlug er vor, und mir fiel der kaputte Sekundenzeiger des Weckers ein, „oder auf ein Lebewesen.“ Ich dachte an unseren reglosen Hund im Hof. „Jede Bewegung ist unterbrochen, weil die Zeit steht.“
„Aber“, wandte ich ein, „du bewegst dich.“
„Ich habe eure Zeit angehalten, nicht meine.“
„Und ich bewege mich.“
„Du warst gerade im Übergang vom Wachsein zum Träumen, und da ist es besonders schwer, eure Zeit anzuhalten. Außerdem war ich abgelenkt, als ich das Gewächshaus sah, und habe mich nicht genügend konzentriert.“
„Hast du keine Sorge, ich könnte dich verraten?“ Diese Frage war mir herausgerutscht, ehe ich es verhindern konnte. Aber mein nächtlicher Besucher schüttelte lächelnd den Kopf.
„Was willst du denn berichten? Dass ein Außerirdischer die Zeit angehalten und Pflanzen aus deinem Gewächshaus geholt hat?“
Er hatte Recht. Diese Geschichte würde mir sicher niemand glauben, ich würde damit höchstens in der Psychiatrie landen.
„Wozu brauchst du die Pflanzen?“, wollte ich als Nächstes wissen, und er wurde sehr ernst.
„Es hat bei uns einen Unfall gegeben, der fast die gesamte Vegetation vernichtet hat. Die Bewohner unseres Planeten müssen hungern, wenn es nicht schnell gelingt, die Bestände wieder herzustellen.“
Ich warf einen skeptischen Blick auf die wenigen Büsche, die er zusammengetragen hatte.
„Das reicht aber nie und nimmer für die Bevölkerung eines ganzen Planeten“, wandte ich ein.
„Wir können sie beliebig vervielfältigen“, erklärte er, „aber wir brauchen Prototypen.“
Ich half ihm, geeignete Baumsetzlinge auszusuchen, die er nebst den Beerensträuchern ohne Werkzeug und ohne seine Hände zu beschmutzen im Inneren seines Raumgleiters verschwinden ließ.

„Es ist doch merkwürdig, dass ihr auf eurem Planeten dieselbe Sprache sprecht, wie wir hier, auf diesem Teil der Erde“, überlegte ich.
„Sprache? Ich habe nicht mit dir gesprochen.“
Ich schaute ihn verständnislos an. „Aber wir reden doch die ganze Zeit miteinander.“
Er schüttelte den Kopf. „Würden wir das versuchen, würden wir einander nicht verstehen. Ich habe Verbindung mit deinen Gedanken aufgenommen. So können wir uns ohne Worte verständigen.“
Nun war ich vollends verwirrt. „Aber Gedanken brauchen doch eine Sprache“, wandte ich ein.
„Sie brauchen eine Sprache, um uns bewusst zu werden. Wenn man die Verbindung zwischen zwei denkenden Lebewesen herstellt, bevor sie ihre Gedanken in Worte fassen, kann sich jeder seiner eigenen Sprache bedienen und den anderen dennoch verstehen.“
„Das heißt, du liest meine Gedanken, noch bevor sie mir bewusst werden?“
Er nickte und zwinkerte mir zu. „Und ich finde dich auch sehr attraktiv.“

Noch ehe ich reagieren konnte, war er in seinen Raumgleiter gestiegen, und dieser war von einem Moment zum nächsten nicht mehr da, ohne beim Abflug ein Geräusch zu verursachen. Gleichzeitig verschwand der Blitz vom Himmel, es wurde stockdunkel, und der Hund fing an zu bellen.
Ich schloss das Gewächshaus ab, beruhigte den Hund und ging zurück ins Haus, das im Wind ächzte und knarrte. Ich legte mich wieder ins Bett, und alles war wie vorher, bevor ich eingeschlafen war.
Ich hätte mein Erlebnis für einen Traum gehalten, wären da nicht die Lücken in unseren Beeten und die unendliche Sehnsucht in meinem Herzen gewesen.