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Schmetterlinge können das

  • Schmetterlinge können das

    ISBN: 978-1-52111-764-4

    11,90 

    Kein Ausweis von Umsatzsteuer, da Kleinunternehmer gemäß § 19 UStG

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  • Ich hätte merken sollen, dass etwas nicht stimmte. Im Nachhinein betrachtet hatte es genügend Anzeichen dafür gegeben, die mich zumindest hätten stutzig machen müssen. Aber ich war nicht im Geringsten auf das vorbereitet, was mich erwartete. Wahrscheinlich traf es mich deshalb mit derartiger Wucht.
    Es begann wie ein ganz normaler Montag: Ich wurde von dem penetranten Hupton meines Weckers aus dem Tiefschlaf gerissen. Als ich vorsichtig ein Auge öffnete, leuchtete mir die ›6:00‹ der Digitalanzeige höhnisch entgegen. Einen Moment lang fragte ich mich hoffnungsvoll, ob nicht vielleicht Sonntag war. Dann hätte ich mich einfach auf die andere Seite drehen und weiter schlafen können. Doch ich kam rasch zu einem negativen Ergebnis, denn mir fiel ein, dass am Vortag Andis Eltern zum Kaffee trinken bei uns gewesen waren. Das tun sie nur sonntags. Wenn aber gestern Sonntag war, musste dieser Tag der Montag sein. Im Klartext: Mir blieb nichts anderes übrig als aufzustehen.
    Seufzend stellte ich den Wecker aus, setzte mich auf und ließ die Beine einen Augenblick lang über den Bettrand baumeln, bis mein Kreislauf auf Touren gekommen war. Mit den großen Zehen angelte ich nach meinen Hausschuhen, nahm im Dunkeln meinen Morgenmantel vom Haken und verließ das Schlafzimmer so leise wie möglich in Richtung Küche.
    Ich glaube, wenn ich plötzlich erblindet wäre, hätte ich dennoch keine Probleme gehabt, für meine Familie und mich Frühstück zu machen. Denn das erledigte ich immer im Halbschlaf und mit halb oder ganz geschlossenen Augen. Kaffee kochen für meinen Mann Andi und mich. Kakao – die Milch höchstens lauwarm – für unsere Kinder Lukas und Anna. Teller und Tassen auf den Tisch, Besteck. Brot, Butter, Marmelade und Honig, Käse und Wurst, Obst und Joghurt. Mit dieser täglichen Routine wurde ich fertig, noch bevor ich ganz wach war.
    Danach ging ich mich rasch duschen und anziehen. Später würde ich dazu keine Gelegenheit mehr haben, denn dann würden mich Andi und die Kinder mit Beschlag belegen.
    Ich war noch nie ein Frühaufsteher und Montage fand ich immer besonders schlimm. Ich bin mir nicht sicher, ob das daran lag, dass ich nach dem vergleichsweise ruhigen Tagesbeginn am Wochenende verwöhnt war oder daran, dass sich an den Montagen die kleineren und größeren Katastrophen häuften. Jedenfalls schien es ein Naturgesetz zu geben, nach dem sich die Probleme immer auf den Wochenanfang konzentrierten, ganz besonders auf Montagmorgen.
    An diesem Montagmorgen beispielsweise stellte ich nach dem Duschen fest, dass meine Lieblingsjeans offensichtlich beim Waschen eingelaufen waren. Dabei hoffte ich inständig, dass sie mir nicht aus einem anderen Grund zu eng geworden waren. Ganz sicher hatte ich nicht noch mehr zugenommen, oder!? Leise fluchend schwor ich mir, zukünftig sonntags zum Kaffeetrinken keine Sahnetorte mehr zu essen. Und überhaupt musste ich dringend eine Diät machen, am besten auch endlich etwas Sport. Fürs Erste ließ ich den Knopf am Hosenbund offen und zog eine weite Bluse darüber.
    Ich ging in die Küche zurück, um wie jeden Morgen ein paar Minuten lang die Ruhe vor dem Sturm zu genießen. Für gewöhnlich befolgte ich eine immer gleiche Routine: Während ich die erste Tasse Kaffee trank, ganz für mich alleine, schmierte ich schon mal Butter auf die Brote der Kinder und sammelte meine Kräfte, bevor es endgültig an der Zeit war, Andi, Lukas und Anna zu wecken und der allmorgendlichen Hektik die Stirn zu bieten.
    Aber auch das klappte an diesem Morgen nicht: Als ich in die Küche kam, war Andi schon aufgestanden, ohne dass ich ihn geweckt hätte. Er saß am Frühstückstisch und trank Kaffee. Meinen Kaffee, denn die erste Tasse war ja eigentlich für mich. Schließlich hatte ich ihn gekocht.
    Dass Andi freiwillig aufstand, war jedoch ein so ungewöhnliches Ereignis, dass ich zunächst völlig verblüfft war. Wie sollte ich darauf reagieren? Wenn ich ehrlich war, störte es mich, dass er so früh hier in der Küche saß und einfach meinen Kaffee austrank. Und noch unangenehmer war es mir, dass ich jetzt schon reden musste. Die erhofften stillen Minuten, mit denen mein Tag sonst begann, konnte ich vergessen.
    »Was machst du denn schon hier?«, raunzte ich Andi daher an. Ups! Das hatte genervt geklungen, dabei hatte er doch eigentlich gar nichts Unrechtes getan. Unwillkürlich zog ich den Kopf ein. Doch statt der erwarteten heftigen Antwort lächelte mein Mann freundlich – viel zu freundlich für einen Montagmorgen – und erklärte:
    »Ich bin vom Wecker aufgewacht und konnte nicht mehr einschlafen.«
    Verwirrt schaute ich ihn an. Wenn es einen schlimmeren Morgenmuffel gab als mich, dann war das Andi. Ich konnte mich nicht erinnern, ihn jemals zuvor um diese Uhrzeit gut gelaunt erlebt zu haben. Und dann auch noch am Anfang der Arbeitswoche? Außerdem war es völlig untypisch für ihn, dass er vom Wecker aufwachte, statt ihn zu überhören. Ich kam zu dem Schluss, dass ich Andis Bemerkung wahrscheinlich als versteckten Vorwurf deuten musste.
    »Aber davon wachst du doch sonst auch nicht auf«, wandte ich ein, schon weitaus kleinlauter als vorher.
    »Nein, nein«, beeilte er sich daraufhin zu versichern, »am Wecker lag’s nicht. Ich hab sowieso nicht mehr tief geschlafen.«
    Verdammt, was war mit ihm los? Normalerweise war es nicht seine Art, nachgiebig zu sein. Wenn etwas nicht so lief, wie er sich das vorgestellt hatte, waren daran immer andere Schuld, niemals er selbst. Also fand er es gut, so früh aufgewacht zu sein? Ich durchschaute seine Taktik nicht, und das verunsicherte mich erst recht.
    »Normalerweise schläfst du morgens wie ein Murmeltier«, versuchte ich zu scherzen. »Ich habe immer meine liebe Mühe, dich rechtzeitig wach zu kriegen. Und heute stehst du ganz von alleine auf. Wie kommt das?«
    Als sich unsere Blicke trafen, hatte Andi einen ganz merkwürdigen Ausdruck in seinen Augen. Einen Moment lang hatte es den Anschein, als käme jetzt etwas Bedeutungsvolles aus seinem Mund. Aber dann schüttelte er nur kurz den Kopf, wandte sich ab, zuckte mit den Achseln und murmelte: »Weiß ich auch nicht.«
    Ich musterte ihn unsicher und versuchte zu erraten, ob er als Nächstes doch noch Vorwürfe gegen mich erheben würde. Dennoch konnte ich nicht umhin festzustellen, wie gut er an diesem Morgen aussah. Seine zerzausten dunkelblonden Haare hingen ihm in die Stirn und in die Augen. Er hat sehr schöne große, blaugrüne Augen, mit langen, dunklen, gebogenen Wimpern. Und obwohl er blass war und noch müde wirkte, machte er dennoch einen zufriedenen, fast glücklichen Eindruck. Er schien unternehmungslustig, voller Tatendrang zu sein. Oder war das Nervosität?
    »Soll ich die Kinder wecken?«, erkundigte er sich und erhob sich. Im Gegensatz zu mir hatte er in letzter Zeit abgenommen. Na ja, er ging seit einigen Monaten wieder regelmäßig zum Joggen und ins Fitness-Studio. Ich hatte erklärt, dass das für mich nicht in Frage kam, weil ich mich ja um Lukas und Anna kümmern musste. Zugegeben: Ich hatte gar keine Lust, am Ende eines arbeitsreichen Tages ins Fitness-Studio zu gehen. Aber um seine Figur beneidete ich Andi schon.
    »Ja, geh sie wecken«, murmelte ich. Noch immer leicht aus dem Konzept gebracht, ließ ich mich auf meinen Stuhl sinken, schenkte mir Kaffee ein und fing an, Brote zu schmieren, während mein Mann in Richtung Kinderzimmer verschwand.
    Der ganz normale Montag-Morgen-Wahnsinn wurde an diesem Tag dadurch gesteigert, dass Anna ins Bett gemacht hatte und Lukas, als er sich an den Frühstückstisch setzen wollte, seinen Kakaobecher umstieß. Daraufhin ergoss sich die hellbraune Flüssigkeit nicht nur auf seinen Pullover und seine Hose, sondern auch auf meine Sachen. Ich beseitigte also die Pfützen von Tisch und Fußboden, zog Lukas und mich um und stopfte die beschmutzten Kleidungsstücke in kaltes Seifenwasser. Wie ich schon befürchtet hatte, war auch die zweite Hose, in die ich an diesem Morgen schlüpfen wollte, zu eng. Die Ausrede, dass auch diese eingelaufen sein könnte, glaubte ich mir selber nicht.
    Als ich mit meinem Sohn an den Frühstückstisch in der Küche zurückkehrte, saß Andi dort, inzwischen geduscht, rasiert, gekämmt und angezogen. Er las in aller Seelenruhe Zeitung, während Anna damit beschäftigt war, ihren Zeigefinger in die Erdbeermarmelade auf ihrem Brot zu bohren und damit lustige Muster auf den Tisch zu malen.
    »Kannst du nicht wenigstens darauf achten, was sie macht?«, herrschte ich ihn an, nahm einen Lappen, wischte Annas Händchen sauber und entfernte ihre Kunstwerke von der Tischplatte.
    »‘tschuldigung«, kam es geistesabwesend von hinter der Zeitung. Erst jetzt bemerkte ich, dass Andi ein türkisfarbenes Hemd trug. Im Prinzip nichts Außergewöhnliches, abgesehen von der Tatsache, dass ich mir sicher war, es nicht gekauft zu haben.
    »Was ist das denn für ein Hemd?«, fragte ich daher erstaunt.
    Er ließ die Zeitung sinken. Türkis passte hervorragend zu seinen Augen, wie ich nun feststellen konnte.
    »Das? Och«, machte er und schien zu überlegen, bevor er erklärte: »Das hab ich mir in Düsseldorf gekauft.« Dort war er vor gut zwei Wochen auf Dienstreise gewesen.
    »Aber du hast dir noch nie selbst ein Hemd ausgesucht«, wandte ich ein.
    »Hm, na ja.« Er wirkte verlegen. »Ich war mit ein paar Kollegen in einem Laden. Alle haben sich dort etwas gekauft. Und die Verkäuferin meinte, dieses Hemd würde mir gut stehen.«
    Sie hatte Geschmack, die Verkäuferin, das musste man ihr lassen. Zum Glück. Wer weiß, womit Andi sonst nach Hause gekommen wäre. Nebenbei ergab sich nun eine günstige Gelegenheit für mich, die ich blitzschnell erkannte und ausnutzte.
    »Ich brauche übrigens auch etwas Neues zum Anziehen. Eine Hose. Diese hier passt mir leider nicht mehr richtig«, brachte ich mein Anliegen an. Geschickt umschiffte ich die Klippe, ihm eröffnen zu müssen, dass es genau genommen nicht nur diese eine Hose war, die mir nicht mehr passte.
    »Mhm.« Er war schon wieder in seine Lektüre vertieft und hatte wahrscheinlich nicht verstanden, was ich gerade zu ihm gesagt hatte. Aber er hatte zugestimmt, und zwar ohne die sonst bei diesen Gelegenheiten üblichen Diskussionen. Es schien fast so, als hätte dieser Montagmorgen wider Erwarten seine positiven Seiten.
    Kurz darauf war es Zeit für den Aufbruch, und wir gingen gemeinsam vor die Haustür. Andi würde zuerst Lukas in die Schule, dann Anna in den Kindergarten bringen und danach ins Büro fahren. Nachdem er sich mit einem flüchtigen Kuss von mir verabschiedet hatte, drehte er sich auf dem Weg zu seinem Wagen noch einmal nach mir um.
    »Du weißt, dass es heute später wird, nicht wahr!?«, erkundigte er sich.
    Ich überlegte. »Die Konferenz?«, mutmaßte ich.
    Er nickte, hob Anna ins Auto und drehte mir den Rücken zu, während er sie in ihrem Kindersitz anschnallte.
    »Die Konferenz mit den potenziellen Geldgebern für unser neues Projekt«, hörte ich ihn erklären. »Vor acht bin ich sicher nicht zu Hause.«
    Ich fragte mich flüchtig, warum er zu einer so wichtigen Konferenz ein farbiges Hemd trug statt einem weißen wie sonst bei solchen Gelegenheiten. Aber mir blieb keine Zeit mehr, ihm diese Frage zu stellen, denn er war bereits eingestiegen und hatte den Motor angelassen. Stattdessen winkte ich wie jeden Morgen dem davonfahrenden Auto hinterher.
    Wie gesagt: Ich hätte merken sollen, dass etwas nicht stimmte. Zumal es immer heißt, dass Frauen so etwas spüren, einen Instinkt dafür haben. Aber ich hatte keine Ahnung, nicht einmal die leiseste.
    Es war ein Montagmorgen wie jeder andere, nicht einmal einer von der besonders üblen Sorte. Nichts, rein gar nichts deutete für mich darauf hin, dass dieser Tag der Anfang für eine grundlegende Veränderung in meinem Leben sein sollte.


    Ich heiße Bettina Wenzel. Bettina seit 38 Jahren, Wenzel erst seit acht.
    Eigentlich bin ich Rechtsanwaltsgehilfin und früher habe ich bei einem Anwalt gearbeitet, der sich auf Patente, Markenüberwachung und Wirtschaftsrecht spezialisiert hatte. Ich fand die Arbeit dort ziemlich öde. Das Thema war so trocken, und nie passierte etwas Aufregendes. Ich meine: Wenn mein Chef schon Jurist war, hätte er doch wenigstens Strafverteidiger sein können oder meinetwegen Scheidungsanwalt. Dieser Wirtschaftskram hingegen war ungefähr so spannend wie Wandfarbe beim Trocknen zuzuschauen.
    Doch eines Tages kam jemand in die Kanzlei spaziert, dessen Anblick mir genau die Abwechslung bot, auf die ich die ganze Zeit gewartet hatte. Er sah nicht nur scharf aus, sodass er sofort die uneingeschränkte Aufmerksamkeit aller weiblichen Angestellten der Kanzlei hatte. Darüber hinaus war er auch noch nett. Ganz besonders zu mir. Er unterhielt sich geraume Zeit mit mir, viel länger als nötig gewesen wäre. Sein Name war Andreas, verriet er mir, Andreas Wenzel. Er war Physiker und arbeitete an der Neu- und Weiterentwicklung von irgendwelchen hochkomplizierten Maschinen. Worum es dabei genau ging, habe ich nie ganz verstanden, weder damals, noch später.
    Am nächsten Tag kam er wieder, brachte mir eine kleine Schachtel Pralinen mit und bedankte sich für die freundliche Unterstützung. Obwohl ich im Grunde nichts Besonderes für ihn getan hatte.
    Noch einen Tag später rief er an und fragte, ob er mich zum Kaffee einladen dürfe. Ich konnte mein Glück kaum fassen. Dieses Sahneschnittchen hatte ausgerechnet mich auserkoren? Meine Kolleginnen beneideten mich. Besonders Iris, die immer größten Wert auf ihr Äußeres legte. Nach eigenen Angaben stand sie jeden Morgen eine Dreiviertelstunde früher auf, um genügend Zeit für ihr Make-Up zu haben. Außerdem jagte sie ständig hinter irgendwelchen Designerklamotten her und bemühte sich, trotz ihres schmalen Gehalts immer nach der neuesten Mode gekleidet zu sein. Und sie hielt Andis Interesse an mir für völlig unverständlich.
    »Was der nur an dir findet?«, überlegte sie laut, als er mir die Pralinenschachtel brachte. Dabei musterte sie mich verdrießlich: Zuerst mein bis auf etwas Rouge und Wimperntusche mal wieder völlig ungeschminktes Gesicht – das Auftragen hatte mich insgesamt noch keine fünf Minuten gekostet. Daraufhin meine Bluse und den Rock von H&M. Dann glitt ihr Blick hinunter zu den Schuhen, die ich bei irgendeinem Ausverkauf günstig erstanden hatte und todschick fand, obwohl sie längst nicht mehr modern waren. »An dir ist doch wirklich nichts dran«, fasste Iris ihre Beobachtungen am Ende zusammen.
    Aber das stimmte nur zum Teil: An mir war nicht viel dran, aber es war nicht ›nichts‹. Meine Brüste und mein Hintern waren zu dieser Zeit noch klein und niedlich, insgesamt war meine Figur gar nicht so übel. Ich hatte große, dunkelbraune Augen, kastanienfarbene Locken und ganz glatte, rosige Haut. Andi gefiel ich jedenfalls – und zwar besser als Iris. Obwohl die einen Moschino-Gürtel mit passender Handtasche hatte und ich nicht.
    Von dem Kaffee, zu dem er mich am nächsten Tag eingeladen hatte, kam ich nicht zur Arbeit zurück. Stattdessen landete ich in Andis Bett. Natürlich war mir klar, dass ich viel zu schnell nachgegeben hatte, aber ich war unglaublich verknallt. Daher hatte ich keine Lust, länger darüber nachzudenken, sondern tat das, was ich ebenso sehr wollte wie Andi. Später erläuterte mir Iris, dass eine Frau niemals beim ersten Date mit in die Wohnung des Mannes gehen durfte. Doch das wusste ich zu dem Zeitpunkt zum Glück noch nicht. Außerdem war es ja auch kein richtiges Date. Wir hatten doch nur einen Kaffee zusammen trinken wollen.
    Was dann folgte, war eine total verrückte, aber wunderschöne Zeit. Denn es blieb nicht bei dem einen Mal. Wir verbrachten die meisten Abende und jedes Wochenende zusammen, meistens im Bett, und vergaßen alles um uns herum. Nicht nur ich hatte mich bis über beide Ohren verliebt, Andi ging es genauso. Wir waren vollkommen sorglos, und ich wurde nachlässig, was das Thema Verhütung betraf. Ein knappes Jahr später stellte ich fest, dass ich schwanger war. Als ich es Andi erzählte, strahlte er vor Glück, zog mich in seine Arme und fragte mich, ob ich ihn heiraten würde. Natürlich sagte ich ›ja‹.
    Allen Unkenrufen zum Trotz war der Tag unserer Hochzeit nicht das Ende unserer Liebe. Absolut nicht. Wir freuten uns gemeinsam auf unser erstes Kind, richteten unsere Wohnung und das Kinderzimmer ein und liebten uns weiterhin genauso sehr wie vorher. Natürlich waren wir nicht mehr so leichtsinnig und unbeschwert. Wie beschlossen, noch ein weiteres Kind zu bekommen und drei Jahre nach Lukas’ Geburt kündigte sich Anna an. Noch bevor sie zur Welt kam, kauften wir ein Haus und zogen aus der Innenstadt an den Stadtrand. Selbstverständlich kam mit den Jahren die Routine, und wir stritten uns häufiger als früher, aber wir versöhnten uns jedes Mal schnell wieder. Dazwischen gab es lange friedliche, harmonische Phasen. Überhaupt: So nahe wie wir uns standen und so vertraut wie wir einander waren, war ich davon überzeugt, dass uns nichts und niemand würde trennen können. Schließlich waren wir schon neun Jahre zusammen und liebten uns immer noch. Das sollte uns erst einmal einer nach machen.
    Solche oder ähnliche Gedanken gingen mir durch den Kopf, als ich an diesem bewussten Montagmorgen in unserer Einfahrt stand und meiner davonfahrenden Familie hinterher winkte. Eigentlich, so fand ich, hatten wir allen Grund stolz und glücklich zu sein.
    Ich kehrte allerdings noch nicht gleich in die Wohnung zurück, sondern inspizierte ausführlich unseren Vorgarten. Dann begann ich umständlich, Unkraut aus der Rabatte neben der Einfahrt zu zupfen. Das war nicht wirklich nötig: Es gab kaum einen Teil unseres Gartens, der so gut gepflegt war, wie eben diese Rabatte neben unserer Einfahrt. Aber ich musste mich doch irgendwie beschäftigen, konnte nicht einfach so herumstehen. Sonst wäre ja allzu offensichtlich geworden, dass ich auf etwas wartete. Glücklicherweise dauerte es diesmal nicht lang, höchstens fünf oder sechs Minuten.
    Das Haus, das unserem gegenüber auf der anderen Straßenseite stand, war ein Mehrfamilienhaus. Von dort kam jetzt unser neuer Nachbar, um in sein Auto zu steigen. Er wusste es nicht, aber seit er vor ein paar Wochen hierher gezogen war, kam ich morgens immer mit nach draußen, um mich von Andi und den Kindern zu verabschieden. Dafür war dieser Typ einer der Gründe. Und definitiv stellte er mein einziges Motiv dar, hinterher nicht schnurstracks ins Haus zurückzugehen, sondern mich stattdessen lieber um das Unkraut in der Rabatte zu kümmern.
    Ich meine, der Typ war einfach eine Augenweide. Ich hatte keine Ahnung, wer oder was er war, ich wusste noch nicht einmal, wie er hieß, aber er hätte ohne Probleme ein Filmstar sein können. Er war noch ziemlich jung, schätzungsweise Anfang dreißig, groß, schlank, mit breiten Schultern, schmalen Hüften, einem knackigen Po und langen Beinen. Seine Haare waren sehr dunkel, fast schwarz, und dadurch, dass seine Barthaare dieselbe Farbe hatten, sah es immer so aus, als trüge er einen Drei-Tage-Bart. Ich war ihm noch nie nah genug gekommen, um seine Augen genauer betrachten zu können, aber ich glaubte, dass sie auch dunkelbraun waren. So wie meine.
    Bis zu diesem Tag hatte ich noch niemandem von ihm erzählt. Nicht einmal Conny, die nicht nur meine Schwester, sondern außerdem auch meine allerbeste Freundin war. Normalerweise verschwieg ich ihr nichts, weihte sie in alles ein, aber dieser Adonis von gegenüber blieb vorläufig mein Geheimnis. Der gehörte mir ganz allein, denn ich hatte ihn ja auch entdeckt. Irgendwann würde ich ihn mit Conny teilen, aber noch nicht jetzt.
    Andi hatte natürlich erst recht keine Ahnung davon, was für einen gutaussehenden Nachbarn wir seit einiger Zeit hatten. Weder hatte er es bislang bemerkt, noch hatte ich ihn darauf aufmerksam gemacht. Ein etwas schlechtes Gewissen hatte ich deswegen schon, obwohl ich mir selbst immer wieder sagte, dass das Schwachsinn war. Schließlich tat ich doch nichts Verbotenes, ich genoss nur einen äußerst erfreulichen Anblick.
    Und wie der sich bewegte! So, als würde ihm die Welt gehören. Er ging zu seinem Auto, stellte seine Aktentasche in den Kofferraum, zog sein Jackett aus, warf es auf den Rücksitz und stieg ein. Jeden Morgen. Nie bemerkte er mich oder falls doch, würdigte er mich keines Blickes. Ich hatte mir schon öfters vorgestellt, wie es wohl wäre, wenn sein Wagen eines schönen Tages einfach nicht anspringen würde. Dann hätte ich einen Grund, zu ihm hinüberzugehen und ihn zu fragen, ob ich ihm helfen könnte. Er würde mich anschauen und dann …
    Was für ein Quatsch! Ich verstand nichts von Autos, er hatte bestimmt für solche Fälle ein Handy in seiner Tasche, und außerdem sprang sein Wagen immer an. Abgesehen davon: was würde er denn erblicken, wenn er mich anschaute? Eine Frau, die etwas aus dem Leim gegangen, ungeschminkt und nicht besonders vorteilhaft gekleidet war. Toll! Das würde ihn ganz sicher tief beeindrucken. Ich wollte ja auch gar nichts von ihm. Nicht wirklich. Schon weil er viel zu jung für mich war. Aber niemand konnte mir verbieten zu gucken.
    Auch an diesem Morgen kam er wie sonst aus dem Haus, aber dann blieb er stehen und zögerte. Ich brauchte nicht lange zu warten, um den Grund dafür zu erfahren: Hinter ihm trat eine Frau auf die Straße hinaus. Eine junge, hübsche mit langen blonden Haaren. Er umarmte sie und küsste sie, während seine Hände über ihren Rücken glitten und ihren Po umfassten. Er raunte ihr etwas zu, sie lachte ihn an, dann trennten sie sich.
    Offensichtlich hatte sie ein Stück weiter die Straße hinunter geparkt und steuerte nun ihr Auto an. Als sie es erreicht hatte, drehte sie sich noch einmal zu ihm um. Er hatte mit dem Einsteigen gewartet und ihr nachgeschaut. Jetzt winkte er, sie warf ihm eine Kusshand zu. Blöde Gans!
    Er lachte, dann stiegen beide in ihre Wagen ein und fuhren fort. Ich sah hinter ihnen her und fühlte mich um mein harmloses tägliches Vergnügen betrogen, obwohl ich mir gleichzeitig vorhielt, dass ich dazu keinerlei Recht hatte. Es war ziemlich blöd anzunehmen, dass nur ich ihn derart atemberaubend fand. War doch sonnenklar, dass es auch noch andere Frauen gab, die das genauso sahen. Und zwar welche, die jünger, hübscher und unverheiratet waren, außerdem keine Kinder hatten, kurz: logisch, dass so ein Typ eine Freundin hatte. Abgesehen davon ging mich das Ganze doch gar nichts an. Und überhaupt: Warum störte es mich eigentlich? Es war im Grunde völlig bedeutungslos für meinen Alltag, für mein weiteres Leben. Trotzdem wurde ich das Gefühl der Enttäuschung nicht los, als ich jetzt endlich in die Wohnung zurückkehrte. Ich hatte Erwartungen gehabt, wenn auch keine hohen, und die hatte unser attraktiver Nachbar an diesem Tag nicht erfüllt. So einfach war das.
    Drinnen lauerte das übliche Schlachtfeld auf mich, das der hektische Aufbruch meiner Familie an jedem Werktag-Morgen hinterließ. Während eines kurzen Kontrollgangs durch alle Räume stellte ich die Schäden fest und machte mir in Gedanken eine Aufgabenliste. Lukas hatte seinen Schlafanzug irgendwo auf den Fußboden fallen lassen und – den daneben verstreuten Spielzeugautos nach zu urteilen – beim Anziehen gespielt, obwohl er das eigentlich nicht durfte. Annas durchweichten Schlafanzug hatte ich vorhin einfach in das ebenfalls nasse Bett geworfen. Das musste nun natürlich abgezogen und mit neuer Bettwäsche versehen werden. Das Badezimmer stand unter Wasser, wie immer wenn Andi geduscht hatte. Am Spiegel klebten zwei Sorten Zahnpasta: rosa von meinen Kindern und weiß von meinem Mann. Auf unserem ungemachten Bett lagen Hemden und ein Anzug, die Andi beim Anziehen in die engere Wahl genommen, dann aber letztendlich doch nicht ausgesucht hatte.
    Das Frühstücksgeschirr stand natürlich noch auf dem Tisch, Anna hatte ihr Brot nicht aufgegessen und Andi seinen Kaffee nicht ausgetrunken. Wegen Lukas’ Missgeschick mit dem Kakao würde ich den Tisch noch einmal gründlich reinigen und auch den Fußboden wischen müssen. In der Küche, die morgens, als ich aufgestanden war, noch einen sauberen und aufgeräumten Eindruck gemacht hatte, sah es aus wie bei Hempels unter dem Sofa. Und ich durfte nicht vergessen, die Kakao befleckte Kleidung, die in der Waschküche im Seifenwasser schwamm, aus dem Waschbecken zu nehmen und zu waschen.
    Als ich das alles ordnungsgemäß registriert hatte, fühlte ich mich wieder als Herrin der Lage. Ich setzte mich zunächst an den Frühstückstisch, aß Annas Brot auf, trank Andis Kaffee aus und nahm mir die Zeitung. Der Papst hatte kluge und mahnende Worte gesprochen, der Außenminister auch. Es gab Artikel über den Preis für Benzin und den von Bernstein, weitere über einen schweren Unfall auf der Autobahn und den Absturz eines Sportflugzeugs. Unser Bürgerhaus war fertig renoviert und am Wochenende feierlich wiedereröffnet worden. Die Wirtschafts- und Sportseiten überblätterte ich.
    Den Cartoon fand ich nicht besonders lustig, und die Klatschspalte enthielt keinen Namen, den ich kannte. Den Fortsetzungsroman las ich entgegen meiner sonstigen Gewohnheit nicht, weil das zurzeit ein Krimi war und ich Liebesromane bevorzugte. Zum Abschluss suchte ich nach meinem Horoskop für diesen Tag. Es lautete:
    ›Sie sollten Veränderungen positiv gegenüber stehen. Schauen Sie nach Ihren eigenen Zielen und Grenzen. Stecken Sie Ihre Begeisterungsfähigkeit nicht länger in eine Sache, die Ihnen eigentlich gar nicht mehr entspricht.‹
    Was damit wohl gemeint war: meine ›eigenen Ziele und Grenzen‹? Meine Kleidergröße vielleicht? Die entsprach mir jedenfalls nicht mehr. Ich grinste unglücklich, faltete die Zeitung zusammen und begann, den Tisch abzuräumen.
    Und dann? Ja, dann klingelte das Telefon.