Schmetterlinge können das

LILY KONRAD

Schmetterlinge können das

„Du bist jahrelang im Verpuppungsstadium gewesen und hast es erst vor Kurzem verlassen. Nun bist du dabei zu entdecken, dass du Flügel hast.“ An einen ganz normalen Montagmorgen erhält Betty einen folgenschweren Anruf. Bis dahin verlief ihr Leben in geregelten Bahnen und die Verantwortung dafür trugen andere. Doch jetzt bleibt nicht nur von ihrer Ehe, sondern auch von ihrem ohnehin schwachen Selbstbewusstsein lediglich ein Scherbenhaufen übrig. Zunächst klammert Betty sich an die Hoffnung, mit ein wenig Geduld ihr früheres Leben zurückerobern zu können. Schon bald muss sie allerdings erkennen, dass kein Weg dorthin zurückführt. Durch ihre bittere Erfahrung lernt die junge Frau, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Dabei sind die ersten Schritte die schwierigsten, aber sie wird von ihrer Schwester Conny tatkräftig unterstützt.
 
Die schlechte Nachricht für sie ist, dass es Ritter in schimmernder Rüstung nur in Heldensagen gibt – die gute, dass sie selbst genug Kraft besitzt, um ihr Leben neu zu ordnen.

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Leseprobe

Ich hätte merken sollen, dass etwas nicht stimmte. Im Nachhinein betrachtet hatte es genügend Anzeichen dafür gegeben, die mich zumindest hätten stutzig machen müssen. Aber ich war nicht im Geringsten auf das vorbereitet, was mich erwartete. Wahrscheinlich traf es mich deshalb mit derartiger Wucht.Es begann wie ein ganz normaler Montag: Ich wurde von dem penetranten Hupton meines Weckers aus dem Tiefschlaf gerissen. Als ich vorsichtig ein Auge öffnete, leuchtete mir die ›6:00‹ der Digitalanzeige höhnisch entgegen. Einen Moment lang fragte ich mich hoffnungsvoll, ob nicht vielleicht Sonntag war. Dann hätte ich mich einfach auf die andere Seite drehen und weiter schlafen können. Doch ich kam rasch zu einem negativen Ergebnis, denn mir fiel ein, dass am Vortag Andis Eltern zum Kaffee trinken bei uns gewesen waren. Das tun sie nur sonntags. Wenn aber gestern Sonntag war, musste dieser Tag der Montag sein. Im Klartext: Mir blieb nichts anderes übrig als aufzustehen.
Seufzend stellte ich den Wecker aus, setzte mich auf und ließ die Beine einen Augenblick lang über den Bettrand baumeln, bis mein Kreislauf auf Touren gekommen war. Mit den großen Zehen angelte ich nach meinen Hausschuhen, nahm im Dunkeln meinen Morgenmantel vom Haken und verließ das Schlafzimmer so leise wie möglich in Richtung Küche.Ich glaube, wenn ich plötzlich erblindet wäre, hätte ich dennoch keine Probleme gehabt, für meine Familie und mich Frühstück zu machen. Denn das erledigte ich immer im Halbschlaf und mit halb oder ganz geschlossenen Augen. Kaffee kochen für meinen Mann Andi und mich. Kakao – die Milch höchstens lauwarm – für unsere Kinder Lukas und Anna. Teller und Tassen auf den Tisch, Besteck. Brot, Butter, Marmelade und Honig, Käse und Wurst, Obst und Joghurt. Mit dieser täglichen Routine wurde ich fertig, noch bevor ich ganz wach war.
Danach ging ich mich rasch duschen und anziehen. Später würde ich dazu keine Gelegenheit mehr haben, denn dann würden mich Andi und die Kinder mit Beschlag belegen.
Ich war noch nie ein Frühaufsteher und Montage fand ich immer besonders schlimm. Ich bin mir nicht sicher, ob das daran lag, dass ich nach dem vergleichsweise ruhigen Tagesbeginn am Wochenende verwöhnt war oder daran, dass sich an den Montagen die kleineren und größeren Katastrophen häuften. Jedenfalls schien es ein Naturgesetz zu geben, nach dem sich die Probleme immer auf den Wochenanfang konzentrierten, ganz besonders auf Montagmorgen.
An diesem Montagmorgen beispielsweise stellte ich nach dem Duschen fest, dass meine Lieblingsjeans offensichtlich beim Waschen eingelaufen waren. Dabei hoffte ich inständig, dass sie mir nicht aus einem anderen Grund zu eng geworden waren. Ganz sicher hatte ich nicht noch mehr zugenommen, oder!? Leise fluchend schwor ich mir, zukünftig sonntags zum Kaffeetrinken keine Sahnetorte mehr zu essen. Und überhaupt musste ich dringend eine Diät machen, am besten auch endlich etwas Sport. Fürs Erste ließ ich den Knopf am Hosenbund offen und zog eine weite Bluse darüber.
Ich ging in die Küche zurück, um wie jeden Morgen ein paar Minuten lang die Ruhe vor dem Sturm zu genießen. Für gewöhnlich befolgte ich eine immer gleiche Routine: Während ich die erste Tasse Kaffee trank, ganz für mich alleine, schmierte ich schon mal Butter auf die Brote der Kinder und sammelte meine Kräfte, bevor es endgültig an der Zeit war, Andi, Lukas und Anna zu wecken und der allmorgendlichen Hektik die Stirn zu bieten.
Aber auch das klappte an diesem Morgen nicht: Als ich in die Küche kam, war Andi schon aufgestanden, ohne dass ich ihn geweckt hätte. Er saß am Frühstückstisch und trank Kaffee. Meinen Kaffee, denn die erste Tasse war ja eigentlich für mich. Schließlich hatte ich ihn gekocht.
Dass Andi freiwillig aufstand, war jedoch ein so ungewöhnliches Ereignis, dass ich zunächst völlig verblüfft war. Wie sollte ich darauf reagieren? Wenn ich ehrlich war, störte es mich, dass er so früh hier in der Küche saß und einfach meinen Kaffee austrank. Und noch unangenehmer war es mir, dass ich jetzt schon reden musste. Die erhofften stillen Minuten, mit denen mein Tag sonst begann, konnte ich vergessen.
»Was machst du denn schon hier?«, raunzte ich Andi daher an. Ups! Das hatte genervt geklungen, dabei hatte er doch eigentlich gar nichts Unrechtes getan. Unwillkürlich zog ich den Kopf ein. Doch statt der erwarteten heftigen Antwort lächelte mein Mann freundlich – viel zu freundlich für einen Montagmorgen – und erklärte:
»Ich bin vom Wecker aufgewacht und konnte nicht mehr einschlafen.«
Verwirrt schaute ich ihn an. Wenn es einen schlimmeren Morgenmuffel gab als mich, dann war das Andi. Ich konnte mich nicht erinnern, ihn jemals zuvor um diese Uhrzeit gut gelaunt erlebt zu haben. Und dann auch noch am Anfang der Arbeitswoche? Außerdem war es völlig untypisch für ihn, dass er vom Wecker aufwachte, statt ihn zu überhören. Ich kam zu dem Schluss, dass ich Andis Bemerkung wahrscheinlich als versteckten Vorwurf deuten musste.
»Aber davon wachst du doch sonst auch nicht auf«, wandte ich ein, schon weitaus kleinlauter als vorher.
»Nein, nein«, beeilte er sich daraufhin zu versichern, »am Wecker lag’s nicht. Ich hab sowieso nicht mehr tief geschlafen.«
Verdammt, was war mit ihm los? Normalerweise war es nicht seine Art, nachgiebig zu sein. Wenn etwas nicht so lief, wie er sich das vorgestellt hatte, waren daran immer andere Schuld, niemals er selbst. Also fand er es gut, so früh aufgewacht zu sein? Ich durchschaute seine Taktik nicht, und das verunsicherte mich erst recht.
»Normalerweise schläfst du morgens wie ein Murmeltier«, versuchte ich zu scherzen. »Ich habe immer meine liebe Mühe, dich rechtzeitig wach zu kriegen. Und heute stehst du ganz von alleine auf. Wie kommt das?«
Als sich unsere Blicke trafen, hatte Andi einen ganz merkwürdigen Ausdruck in seinen Augen. Einen Moment lang hatte es den Anschein, als käme jetzt etwas Bedeutungsvolles aus seinem Mund. Aber dann schüttelte er nur kurz den Kopf, wandte sich ab, zuckte mit den Achseln und murmelte: »Weiß ich auch nicht.«
Ich musterte ihn unsicher und versuchte zu erraten, ob er als Nächstes doch noch Vorwürfe gegen mich erheben würde. Dennoch konnte ich nicht umhin festzustellen, wie gut er an diesem Morgen aussah. Seine zerzausten dunkelblonden Haare hingen ihm in die Stirn und in die Augen. Er hat sehr schöne große, blaugrüne Augen, mit langen, dunklen, gebogenen Wimpern. Und obwohl er blass war und noch müde wirkte, machte er dennoch einen zufriedenen, fast glücklichen Eindruck. Er schien unternehmungslustig, voller Tatendrang zu sein. Oder war das Nervosität?
»Soll ich die Kinder wecken?«, erkundigte er sich und erhob sich. Im Gegensatz zu mir hatte er in letzter Zeit abgenommen. Na ja, er ging seit einigen Monaten wieder regelmäßig zum Joggen und ins Fitness-Studio. Ich hatte erklärt, dass das für mich nicht in Frage kam, weil ich mich ja um Lukas und Anna kümmern musste. Zugegeben: Ich hatte gar keine Lust, am Ende eines arbeitsreichen Tages ins Fitness-Studio zu gehen. Aber um seine Figur beneidete ich Andi schon.
»Ja, geh sie wecken«, murmelte ich. Noch immer leicht aus dem Konzept gebracht, ließ ich mich auf meinen Stuhl sinken, schenkte mir Kaffee ein und fing an, Brote zu schmieren, während mein Mann in Richtung Kinderzimmer verschwand.
Der ganz normale Montag-Morgen-Wahnsinn wurde an diesem Tag dadurch gesteigert, dass Anna ins Bett gemacht hatte und Lukas, als er sich an den Frühstückstisch setzen wollte, seinen Kakaobecher umstieß. Daraufhin ergoss sich die hellbraune Flüssigkeit nicht nur auf seinen Pullover und seine Hose, sondern auch auf meine Sachen. Ich beseitigte also die Pfützen von Tisch und Fußboden, zog Lukas und mich um und stopfte die beschmutzten Kleidungsstücke in kaltes Seifenwasser. Wie ich schon befürchtet hatte, war auch die zweite Hose, in die ich an diesem Morgen schlüpfen wollte, zu eng. Die Ausrede, dass auch diese eingelaufen sein könnte, glaubte ich mir selber nicht.
Als ich mit meinem Sohn an den Frühstückstisch in der Küche zurückkehrte, saß Andi dort, inzwischen geduscht, rasiert, gekämmt und angezogen. Er las in aller Seelenruhe Zeitung, während Anna damit beschäftigt war, ihren Zeigefinger in die Erdbeermarmelade auf ihrem Brot zu bohren und damit lustige Muster auf den Tisch zu malen.
»Kannst du nicht wenigstens darauf achten, was sie macht?«, herrschte ich ihn an, nahm einen Lappen, wischte Annas Händchen sauber und entfernte ihre Kunstwerke von der Tischplatte.
»‘tschuldigung«, kam es geistesabwesend von hinter der Zeitung. Erst jetzt bemerkte ich, dass Andi ein türkisfarbenes Hemd trug. Im Prinzip nichts Außergewöhnliches, abgesehen von der Tatsache, dass ich mir sicher war, es nicht gekauft zu haben.
»Was ist das denn für ein Hemd?«, fragte ich daher erstaunt.
Er ließ die Zeitung sinken. Türkis passte hervorragend zu seinen Augen, wie ich nun feststellen konnte.
»Das? Och«, machte er und schien zu überlegen, bevor er erklärte: »Das hab ich mir in Düsseldorf gekauft.« Dort war er vor gut zwei Wochen auf Dienstreise gewesen.
»Aber du hast dir noch nie selbst ein Hemd ausgesucht«, wandte ich ein.
»Hm, na ja.« Er wirkte verlegen. »Ich war mit ein paar Kollegen in einem Laden. Alle haben sich dort etwas gekauft. Und die Verkäuferin meinte, dieses Hemd würde mir gut stehen.«
Sie hatte Geschmack, die Verkäuferin, das musste man ihr lassen. Zum Glück. Wer weiß, womit Andi sonst nach Hause gekommen wäre. Nebenbei ergab sich nun eine günstige Gelegenheit für mich, die ich blitzschnell erkannte und ausnutzte.
»Ich brauche übrigens auch etwas Neues zum Anziehen. Eine Hose. Diese hier passt mir leider nicht mehr richtig«, brachte ich mein Anliegen an. Geschickt umschiffte ich die Klippe, ihm eröffnen zu müssen, dass es genau genommen nicht nur diese eine Hose war, die mir nicht mehr passte.
»Mhm.« Er war schon wieder in seine Lektüre vertieft und hatte wahrscheinlich nicht verstanden, was ich gerade zu ihm gesagt hatte. Aber er hatte zugestimmt, und zwar ohne die sonst bei diesen Gelegenheiten üblichen Diskussionen. Es schien fast so, als hätte dieser Montagmorgen wider Erwarten seine positiven Seiten.
Kurz darauf war es Zeit für den Aufbruch, und wir gingen gemeinsam vor die Haustür. Andi würde zuerst Lukas in die Schule, dann Anna in den Kindergarten bringen und danach ins Büro fahren. Nachdem er sich mit einem flüchtigen Kuss von mir verabschiedet hatte, drehte er sich auf dem Weg zu seinem Wagen noch einmal nach mir um.
»Du weißt, dass es heute später wird, nicht wahr!?«, erkundigte er sich.
Ich überlegte. »Die Konferenz?«, mutmaßte ich.
Er nickte, hob Anna ins Auto und drehte mir den Rücken zu, während er sie in ihrem Kindersitz anschnallte.
»Die Konferenz mit den potenziellen Geldgebern für unser neues Projekt«, hörte ich ihn erklären. »Vor acht bin ich sicher nicht zu Hause.«
Ich fragte mich flüchtig, warum er zu einer so wichtigen Konferenz ein farbiges Hemd trug statt einem weißen wie sonst bei solchen Gelegenheiten. Aber mir blieb keine Zeit mehr, ihm diese Frage zu stellen, denn er war bereits eingestiegen und hatte den Motor angelassen. Stattdessen winkte ich wie jeden Morgen dem davonfahrenden Auto hinterher.
Wie gesagt: Ich hätte merken sollen, dass etwas nicht stimmte. Zumal es immer heißt, dass Frauen so etwas spüren, einen Instinkt dafür haben. Aber ich hatte keine Ahnung, nicht einmal die leiseste.
Es war ein Montagmorgen wie jeder andere, nicht einmal einer von der besonders üblen Sorte. Nichts, rein gar nichts deutete für mich darauf hin, dass dieser Tag der Anfang für eine grundlegende Veränderung in meinem Leben sein sollte…

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