Der vergessene Kontinent
von Nicky Fee
Es war noch früh am Tag, als Cat und Mitch durch den Wald gingen. Nebel umhüllte die Stämme und sie konnten fühlen, wie sich ein feuchter Film auf ihre Gesichtshaut legte. Obwohl Cat wusste, dass sich ihre Mutter wohlbehalten auf Sisong aufhielt, spürte sie, wie ihr Trauer in die Glieder fuhr. Ein Friedwald ist ein wundervoller Ort für die letzte Ruhestätte, doch gleichzeitig verwandelten die Naturgräber ihre Umgebung in einen Totenacker.
„Es ist nicht mehr weit“, sagte sie ihrem Gefährten, der bei der Beerdigung nicht dabei gewesen war.
Sie zeigte nach vorn, wo sich langsam die Umrisse einer Lichtung aus der Landschaft schälten. Dort gab es drei Gräber. Sie gingen zu dem, welches links vom Weg zu finden war. An dem Baum, zu dessen Fuß die leere Urne in den Boden gesetzt worden war, befand sich eine Plakette aus Messing, auf der Laras Geburts- und angebliches Sterbedatum standen, dazu die Innenschrift ‚Für immer vereint mit Liam & Catriona‘.
Vor der Eiche blieben sie stehen. Cat schlang sich die Arme um den Oberkörper, auch wenn sie nicht wusste, ob sie wegen der Situation oder der Temperatur fröstelte. Mitch legte ihr sanft einen Arm um die Schulter.
„Du weißt doch, dass es ihr gut geht“, beruhigte er sie.
„Ja, ich weiß“, bestätigte sie, „aber es ist, als würde meine Mutter gleichzeitig hier sein. Das Gefühl ihres Verlustes ist immer noch greifbar.“
Schweigend standen sie einige Zeit aneinander gelehnt da. Der Nebel begann, sich langsam aufzulösen. Ein Hirschkäfer setzte sich auf den Baumstamm, gleich über die Plakette. Mitch zog scharf die Luft ein, ließ Cat los und kniete sich hin. Er küsste seinen rechten Daumen, um anschließend die Hand zweimal vor seinem Gesicht kreisen zu lassen.
„Mitch, was genau tust du da? Was ist mit dem Käfer?“
„Das Wächtertier des vergessenen Kontinents Arbosis“, murmelte er.
Auf Cats verständnislosen Gesichtsausdruck hin begann er zu erklären: „Mein Großvater hat mir die Geschichte einmal erzählt, als wir in den Bergen rund um unser Heimatdorf gewandert sind. Es war ein wunderschöner warmer Tag, wir machten Rast um Wasser zu trinken und plötzlich ist ein Hirschkäfer auf dem Stein neben mir gelandet. Er war doppelt so groß wie dieser hier und dunkelrot mit schwarzen Zangen. Danach habe ich nie wieder solch einen Käfer gesehen.“
Mitch streckte kurz die Hand aus, als wolle er das Insekt berühren, stand stattdessen aber wieder auf, die Augen auf den Baumstamm gerichtet.
„Es gibt kaum noch Sisoner, die sich an den Kontinent erinnern. Angeblich war er kleiner als Australien, die ganze Fläche bedeckt mit meterhohen Bäumen. Manche davon hatten riesige hohle Stämme, in denen die Einwohner lebten. Dort und in den Wipfeln. Die Hirschkäfer waren immer unter ihnen, mehr Familienmitglied als Insekt. Auf den größeren Exemplaren konnten sie sogar fliegen. Es soll ein sehr naturverbundenes Volk gewesen sein. Früher wurde gespottet, sie konnten die Gedanken der Bäume besser lesen als die ihrer eigenen Gattung. Doch dann kam der Tag, als der ganze Kontinent im Wasser versank. Es war eine Kettenreaktion – die Plattenverschiebung löste eine große Flutwelle aus, während gleichzeitig der Boden um mehrere Meter absank. Obwohl tausende anderer Sisoner versuchte, die Leute zu retten, sind die meisten Arbosiner in den Fluten ertrunken, bei dem Versuch, die Kinder und Jugendlichen zu retten. Es gab nicht genug Heiler für alle. Die, die überlebt haben, starben später an gebrochenem Herzen, weil sie ihre Familie, ihre Heimat oder beides verloren hatten. Viele gingen freiwillig in die Unendlichkeit. Eine traurige Zeit, sagte mein Großvater. Auch die Käfer sind mit dem Kontinent verloren gegangen.“
Cat hatte ihre Hand bereits am Anfang der Geschichte tröstend auf Mitchs Arm gelegt. Der Hirschkäfer flog einmal um die beiden herum und dann tiefer in den Wald hinein.
„Es gibt mir Hoffnung, dass es diese Tiere hier auf der Erde noch gibt. Hoffnung, dass auch wir eine Zukunft auf diesem Planeten haben werden.“